Geschichte
Wie ein Franzose als Kriegsgefangener Freundschaft und Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen wachsen lässt.
Aimé Portal war ein französischer Winzer aus Bagnoles, einem Dorf nord-östlich der Stadt Carcassone in Südfrankreich. Wie viele junge Männer seiner Generation musste auch er als Soldat für sein Land in den Zweiten Weltkrieg ziehen.
Am 21. Juni 1940 geriet er dabei in deutsche Gefangenschaft und wurde im Stammlager „Stalag XII D“ interniert, das sich neben der Kemmelkaserne auf dem Petrisberg zu Trier befand. Schließlich kam er im Jahr 1942 als Zwangsarbeiter in das damals aus 17 Häusern bestehende Dorf Krumscheid bei Asbach im Westerwald. Dort arbeitete er bis zum Kriegsende auf dem Bauernhof von Johann Balensiefen.
Entgegen den Anweisungen der deutschen Obrigkeit wurde Aimé Portal von der Familie Balensiefen freundlich aufgenommen und gut versorgt. Johann Balensiefen hielt nicht viel von der nationalsozialistischen Regierung und war deshalb auch nicht Mitglied der NSDAP, obwohl er wiederholt dazu gedrängt wurde. In den 1920er Jahren hatte Johann am Castillon-Staudamm in der Verdonschlucht nahe der Stadt Castellane in der französischen Provence mitgebaut und dabei Kenntnisse der französischen Sprache erworben. Dadurch wurde die Verständigung mit Aimé sehr erleichtert.
Zwischen den Dörfern Krumscheid und Hirz-Maulsbach gehörte den Balensiefens eine Wiese an einem Hang in der Gemarkung „Am Steimelchen“. An deren unterem Ende wucherten zwei Faulbaumbüsche, die Aimé im Winter 1943/44 abholzen sollte. Unter einem dieser Büsche wuchs eine kleine Eiche, die zu diesem Zeitpunkt etwa zwei Zentimeter dick und einen Meter hoch war. Er bat die Familie Balensiefen, diese junge Eiche als Zeichen für den Frieden und die Versöhnung zwischen Franzosen und Deutschen stehen lassen zu dürfen, denn er war schon damals davon überzeugt, dass die beiden Völker eines Tages in Freundschaft miteinander verbunden sein würden. Dass jemand in seiner Lage – als Zwangsarbeiter und nach bereits mehrjähriger Kriegsgefangenschaft beim damaligen Erzfeind Frankreichs – einen solch versöhnlichen Weitblick hatte, erscheint auch heute, nach mehr als 70 Jahren, noch immer außerordentlich bemerkenswert. Sicherlich gehörte auch eine Portion Wunschdenken zu dieser erstaunlichen Vorahnung. So wurde also zur Stabilisierung ein Pfahl neben der jungen Eiche eingeschlagen und diese daran festgebunden.
Die letzten Wochen des Krieges waren für die Kriegsgefangenen besonders gefährlich. Die alliierten Truppen rückten vor und die deutschen Truppen mussten immer weiter zurückweichen. Kriegsgefangene wurden dabei häufig von deutschen Soldaten als Geiseln verschleppt. Daher versteckte sich Aimé in diesen Tagen zusammen mit einigen weiteren Kriegsgefangenen in einer kleinen Höhle namens „Goldloch“ im nahegelegenen Mehrbachtal. Die Balensiefens versorgten sie dort heimlich mit Essen. Johann versteckte die Nahrungsmittel in der Dämmerung an unterschiedlichen Plätzen im Umland, die zuvor mit Aimé abgesprochenen waren. Aimé holte sie dann nachts im Schutz der Dunkelheit ab. Damit blieb das Versteck der Kriegsgefangenen unentdeckt, ebenso die Versorgung durch die Familie Balensiefen.
Am 25. März 1945 besetzten die amerikanischen Truppen Krumscheid. Damit war der Krieg hier beendet und die Kriegsgefangenen konnten in ihre Heimat zurückkehren. Eine Woche später erreichte Aimé seine Familie in Bagnoles. Einige Zeit nach seiner Rückkehr schrieb er einen Brief an die Familie Balensiefen, in dem er sich für die gute Behandlung während seiner Gefangenschaft bedankte.
Nach Kriegsende befand sich auf einer Wiese neben dem Haus der Balensiefens ein amerikanisches Soldaten-Camp. Als Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war, gehörte Krumscheid aber zur französischen Zone, weshalb die amerikanischen Soldaten abzogen. Sie ließen allerlei Sachen auf der Wiese zurück, unter anderem ein kleines Fass mit Schmierfett für Maschinen. Die Bauern im Dorf vermuteten, dass dieses Fett nun niemandem mehr gehörte und deshalb nahmen sie sich zum Fetten ihrer landwirtschaftlichen Maschinen alle etwas davon. Die französischen Soldaten jedoch bemerkten dies. Und weil das Fass auf dem Grundstück der Balensiefens gelegen hatte, wurde Johann wegen Diebstahls von Kriegsmaterial angeklagt.
Die Gerichtsverhandlung fand am französischen Kriegsgericht in Koblenz statt. Man rechnete damit, dass Johann zu mindestens zwei Jahren Zwangsarbeit in Frankreich verurteilt würde. Weil er keinen Anwalt hatte, sollte er sich nach dem Verlesen der Anklage selbst zu dem Vorwurf äußern. In dieser Situation reichte Johann dem Richter den Brief von Aimé, den er kurz zuvor erhalten hatte. Er hoffte, dem Gericht damit glaubwürdig belegen zu können, dass er den Franzosen gegenüber nicht feindlich gesinnt war. Der Richter und die Beisitzer lasen den Brief, berieten sich danach kurz und gaben ihn anschließend zurück. Dann schickten sie Johann nach Hause. Die Angelegenheit war damit erledigt. Aimé Portals Brief hatte Johann Balensiefen vor der befürchteten Bestrafung bewahrt.
Die Eiche, die Aimé Portal als Zeichen für Frieden und Versöhnung stehengelassen hat, ist heute allen Leuten, die diese Geschichte kennen, als „Friedenseiche“ bekannt. In den ersten Jahren mussten die um sie herumstehenden Faulbaumbüsche noch einige Male abgeholzt werden, da sie immer wieder nachgewachsen waren, aber mit zunehmender Größe der Eiche wurden die Büsche von ihr verdrängt. Die Friedenseiche entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem stattlichen Baum mit großer Krone. Davor stehen seit März 2019 zwei Bänke und ein Tisch, die Wanderer zum Verweilen einladen.
In den Jahren nach dem Krieg gab es noch vereinzelte Briefwechsel zwischen Aimé Portal und der Familie Balensiefen, letztmalig in den 1960er Jahren. Danach bestand jedoch insbesondere wegen der großen räumlichen Entfernung kein Kontakt mehr. Und schließlich verstarben Johann Balensiefen in den 1970er und Aimé Portal in den 1980er Jahren.
Jedoch erzählten die Kinder der Balensiefens ihren Kindern wiederholt von diesen Ereignissen. Schließlich haben Enkel von Johann Balensiefen zur Erinnerung an die Geschichte der Friedenseiche zu Beginn des Millenniums eine eigene Internetseite erstellt. Dort wurden einige Fotos der Eiche gezeigt und es gab eine Kurzfassung der Geschehnisse in deutscher und französischer Sprache zu lesen. Wie üblich hatte diese Internetseite ein Kontaktformular, über das sich Personen hätten melden können, um weitere Details der Geschichte zu erfahren. Mehrere Jahre lang gab es aber keine Anfrage.
Im Dezember 2009 kam jedoch eine Kontaktanfrage in französischer Sprache. Gabriel Portal, ein Enkel von Aimé Portal, hatte zufällig die Internetseite der Friedenseiche entdeckt. Mit dem Namen seines Großvaters und dem Heimatort bestand kein Zweifel, dass die auf der Internetseite präsentierte Geschichte sich auf seinen Großvater bezog. Aus dieser Kontaktaufnahme entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren ein für beide Seiten sehr interessanter Austausch per E-Mail. Jedoch spricht in der deutschen Familie niemand Französisch, in der französischen niemand Deutsch. Deshalb haben zunächst auf beiden Seiten Freunde mit entsprechenden Sprachkenntnissen für die Familien die Übersetzung der E-Mails vorgenommen, bevor durch die Verwendung eines internetbasierten Übersetzerprogramms die Kommunikation wesentlich vereinfacht wurde.
Gabriel Portal ist Winzer – wie einst sein Großvater – und führt den Familienbetrieb in Bagnoles fort. Die Geschichte der Friedenseiche, die zuvorderst natürlich die Erlebnisse seines Großvaters mit Johann Balensiefen schildert, hat er erst durch die betreffende Internetseite kennengelernt. Diese Geschichte und die sie prägenden Werte – Menschlichkeit, Zuversicht, Versöhnung, Frieden – haben ihn so sehr beeindruckt, dass er mittlerweile zur Würdigung und in Erinnerung an seinen Großvater Weine unter dem Namen „Le Clos d‘Aimé“ anbietet. Auf den Etiketten dieser Weine ist die Friedenseiche mit der davorstehenden Sitzbank abgebildet. So kommt es, dass eine Eiche, die zwischen Asbach-Krumscheid und Hirz-Maulsbach steht, die Flaschen eines südfranzösischen Weins ziert.
An den Ostertagen im April 2017 ist Gabriel Portal mit seiner Familie erstmals nach Deutschland gekommen, um die Friedenseiche endlich in natura sehen zu können und die Nachfahren von Johann Balensiefen persönlich kennenzulernen. Es war ein außergewöhnlich herzliches erstes Treffen der beiden Familien, die durch diese Geschichte miteinander verbunden sind.
Beim Besuch an der Eiche waren auch der Bürgermeister von Hirz-Maulsbach, Dieter Zimmermann, und sein Beigeordneter, Reimund Seifen, anwesend, da die Eiche auf dem Gebiet der Gemeinde Hirz-Maulsbach steht. Der Bürgermeister würdigte die Geschichte der Friedenseiche mit einer kurzen Ansprache und überreichte Gabriel Portal die 600-Jahre-Chronik seiner Gemeinde. Außerdem wies er auf einen schönen Zufall hin: Die obere Hälfte des Gemeindewappens von Hirz-Maulsbach wird von einem Eichenzweig geziert.
Von links nach rechts: Reimund Seifen (Beigeordneter), Regina Baum (Tochter von Johann Balensiefen), Gabriel Portal (Enkel von Aimé Portal), Dieter Zimmermann (Bürgermeister) –
Den Besuch von Familie Portal nahm Dieter Zimmermann desweiteren zum Anlass, um einen spontan gefassten Plan der Gemeindeverwaltung anzukündigen: Ein neuer Wanderweg sollte angelegt werden, um die Friedenseiche und die sogenannte Dorflinde in Niedermaulsbach, die ebenfalls eine besondere Geschichte hat, miteinander zu verbinden.
Nach umfassenden Vorbereitungsarbeiten konnte der Wanderweg „Zwischen Hirz- und Maulsbach“ am 14. Oktober 2017 bei bestem Wetter eingeweiht werden. Dazu hatten sich rund 70 Wanderer zusammengefunden, um den Weg gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Beigeordneten zu wandern. Dieter Zimmermann erläuterte zuvor in einer Ansprache die Ereignisse, die zur Einrichtung des Wanderwegs geführt hatten. Unterwegs wurde an der Friedenseiche eine Pause eingelegt und es wurde der französische Wein ausgeschenkt, auf dessen Etikett die Friedenseiche abgebildet ist. Währenddessen trug Vera Schliefer eine ergreifende Erzählung vor, die sie basierend auf der tatsächlichen Geschichte der Friedenseiche verfasst hat. Die Einweihung endete schließlich bei Kaffee und Kuchen im Maulsbacher Schützenhaus. Viele Teilnehmer zeigten sich beeindruckt von der Arbeit der vielen Helferinnen und Helfer aus Hirz-Maulsbach, die die Veranstaltung in diesem schönen Rahmen ermöglicht haben.
Im Juni 2017 wurde ein Sprössling der Friedenseiche in einem speziell dafür konstruierten Paket zu Gabriel Portal nach Frankreich geschickt. Er hat diese „kleine Friedenseiche“ dort am Rand der Weinfelder eingepflanzt, die seinerzeit von seinem Großvater Aimé bewirtschaftet worden sind. Die kleine Westerwälder Eiche steht vor der großen Herausforderung, sich auf das deutlich wärmere und trockenere Klima umstellen zu müssen. Dank der fachkundigen Pflege durch Gabriel Portal hat sie jedoch schon erste neue Triebe gebildet, so dass ihr diese Umstellung zu gelingen scheint. So zeugen zukünftig also zwei Eichen von der Freundschaft zweier Familien und zweier Völker – eine in der Nähe von Hirz-Maulsbach und eine in Bagnoles bei Carcassonne in Südfrankreich.
Die Ortsgemeinde Hirz-Maulsbach hat sich auch nach der Einweihung des Wanderweges weiter um die Pflege und die Sicherung der Friedenseiche gekümmert: Im Jahr 2019 wurden ein neuer Tisch und zwei neue Bänke unter der Eiche aufgestellt, da die alte Bank mittlerweile morsch geworden war. Im Sommer 2021 wurden abgestorbene Äste aus der Baumkrone entfernt. Eine neue, große Informationstafel wurde im Herbst 2021 neben der Eiche aufgestellt. Und nach langer Vorbereitungszeit konnte im Juni 2022 dann endlich die offizielle Naturdenkmal-Plakette an der Eiche angebracht werden. Dadurch ist die Friedenseiche nun in bestmöglicher Weise geschützt und wird so hoffentlich noch sehr lange als Symbol für Versöhnung und Frieden erhalten bleiben.